Eve und der Spuk von Stellar Blade

Dr. Benjamin Strobel
5 min readApr 5, 2024

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Ein Gespenst geht um in Social Media — das Gespenst von Eve in Stellar Blade. Dort wird es in konservativen Kreisen als Heiland gefeiert, der den prüden Westen mit freizügigen Spielfiguren erschreckt. Das Problem ist nur: Es spukt überhaupt nicht.

Wenn man dieser Tage in die Sozialen Medien schaut, könnte man glauben, um Stellar Blade sei ein neuer Kulturkampf ausgebrochen. Ist das dieses Gamergate 2.0 von dem alle reden? Sicher kann man die sexualisierte Darstellung der Spielfigur kritisch diskutieren und daran beobachten, wie ein Male Gaze nicht nur stellenweise vom Spiel inszeniert, sondern von Spielern auch ausagiert wird. Eine Welle der Aufregung ist allerdings ausgeblieben. Alles, was die vermeintliche Aufregung um Eve vorzuweisen hat, ist ein einzelner Kommentar von IGN France. So wird derselbe Screenshot immer wieder herumgereicht und eine Verschwörung linker Medien gegen das Spiel wortreich herbei phantasiert. Aber ganz gleich, wie sehr man mit dem weißen Laken wedelt, ohne echtes Gespenst wird kein Spuk daraus.

Buh! | Bild: Sony / Shift Up

In meinen Lehrveranstaltungen diskutiere ich die Darstellung von Gender-Stereotypen in Games mit meinen Studierenden. Wir sehen uns beispielsweise Bayonetta an und diskutieren sie im Spannungsfeld von Empowerment und Objektifizierung. Ich weiß, dass die Figur viele weibliche und queere Fans hat, und Dank ihres ikonischen Designs ist sie im kulturellen Gedächtnis noch immer gut verankert. Ich verweise aber auch auf die Beobachtung von Harry Brewis, besser bekannt als hbomberbuy, dass Bayonetta sich nicht vorrangig wie eine Figur anfühle, in die sich jemand hineinversetzen möchte, sondern wie eine Figur, die sich jemand ansehen möchte. Sie ist eine starke und selbstbestimmte Actionheldin. Gleichzeitig ist sie auf eine Weise stark, die für Beobachter:innen ansprechend inszeniert ist. ”Bayonetta may be an empowered female character, but she is empowered strictly within the confines of a straight male fantasy”, sagt Brewis. Nicht zuletzt ist die Figur ein prominentes Beispiel in Anita Sarkeesians Beitrag über den Male Gaze in Games.

Dass Bayonetta dennoch so viele Fans unter Spielerinnen hat, kann auch daran liegen, dass es bis in die 2010er Jahre kaum tiefer ausgearbeitete Frauenfiguren in Spielen gab. Die Auswahl war nicht groß, also mussten Feste eben so gefeiert werden, wie sie fielen. Vielleicht war sie also nicht wegen, sondern trotz ihrer Sexualisierung so erfolgreich. Die Rezeption ist auf jeden Fall komplex.

Diese Art der Reflexion über Medieninhalte und die Botschaften, die sie transportieren, finde ich wichtig. Wenn ich mir aber Stellar Blade anschaue, dann spüre ich da nichts Besonderes. Nun mag es daran liegen, dass ich ein Mann bin, der von Sexismus im Gaming und im Alltag nicht auf dieselbe Weise betroffen ist wie Frauen. Ich glaube aber, dass es noch einen weiteren Grund gibt: Vielfalt und Gleichberechtigung sind zu einem guten Teil Realität geworden. Frauen sind in Spielen prominenter und sichtbarer als je zuvor. Noch nicht in dem Ausmaß, dass man sich die Hände abklopfen und ausruhen könnte. Nein, da gibt es noch viel zu tun. Aber auf eine Weise, die es denjenigen unbehaglich macht, die diese Entwicklung ablehnen. Eine Weise, die sie dazu veranlasst, mit Laken zu wedeln und Gespenster zu behaupten.

Als Leigh Alexander mit dem Aufkommen von Gamergate zum ersten Mal proklamierte “gamers are over”, war es noch mehr Wunsch als Beobachtung. Die Scheindiskussion um Eve gibt mir zum ersten Mal das Gefühl, dass wir an diesem Punkt angekommen sein könnten. Diese Art von “Gamer” ist nicht mehr als eine laute Minderheit, die sich ihre Spukgeschichten nur noch untereinander erzählen. Ab und zu spülen die Algorithmen der Sozialen Medien noch etwas durch die Timelines, in der stillen Hoffnung, Interaktion zu provozieren. Doch die bleiben aus. Denn in den letzten Jahren ist zu diesen Themen schon viel gesagt und auch in Deutschland einiges bewegt worden. Sogar der Verband der deutschen Games-Branche hat sich zur Vielfalt im Gaming bekannt.

Bevor die E3 der Pandemie zum Opfer fiel, hat Feminist Frequency 2020 ein letztes Mal ausgezählt, wie viele Spielfiguren in den gezeigten Games männlich oder weiblich waren. In diesem letzten Jahr waren 18% der Hauptfiguren weiblich, zum ersten Mal fast genauso viele wie männlich (23%). Seit 2018 verzeichnete das Team zudem einen kleinen Prozentsatz nicht-binärer Figuren. Dabei sprechen wir nur über AAA-Blockbuster, die auf einer großen Messe wie der E3 vorgestellt wurden.

Die Zahlen geben noch keinen Aufschluss darüber, wie die Figuren dargestellt wurden. Dass sie tatsächlich vielfältiger geworden sind, zeigt ein Blick in erfolgreiche Titel der letzten zehn Jahre. Frauenteams eroberten in FIFA 2016 zum ersten Mal den virtuellen Fußball. 2017 brachte Horizon Aloy in die Spielewelt, im gleichen Jahr erschufen die Macher von Hellblade mit Senua eine denkwürdige Hauptfigur. Battlefield V brachte 2018 eine weibliche Soldatin aufs Cover. The Last of Us Part II stellte 2020 gleich mehrere weibliche Figuren in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Mit Returnals Selene bekam 2021 sogar eine ältere Figur die Bühne eines großen Titels. 2022 kehrte Bayonetta mit einem dritten Teil zurück (auch wenn die Kritiken eher gemischt waren). In Alan Wake II teilte sich der titelgebende Held 2023 die Hauptrolle mit der schwarzen Polizistin Saga Anderson.

Viele dieser Titel hatten ihrerzeit mit einem Backlash von Gruppen zu kämpfen, die sich von der neuen Vielfalt bedroht fühlten. Geändert hat das wenig: Die meisten Spiele waren extrem erfolgreich, haben Nachfolger bekommen oder eine große Fangemeinde hinter sich versammelt. Und all die vielfältigen Indie-Games wie Unsighted, Coffee Talk oder Goodbye Volcano High (um nur einige zu nennen) haben wir damit noch gar nicht erfasst. Die Gaming-Landschaft ist 2024 diverser denn je. Dabei verträgt sie vermutlich auch die eine oder andere Eve.

Sicher wird es weiterhin Menschen geben, die sich gegen Vielfalt, Gleichberechtigung und progressive Werte stellen. Menschen, die vor koordiniertem Harassment nicht zurückschrecken. Und Menschen, die beim Spielen auf Ärsche starren wollen. Ich glaube allerdings, dass sie vom Aussterben bedroht sind. Das sind nur Dinosaurier, die den Asteroiden anschreien. Die Welt ist eine andere — und Gamergate bald selbst nur noch eine Spukgeschichte.

Vielen Dank an Aurelia Brandenburg für ihre Gedanken zu meinen Gedanken.

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